Oh Hej
Samstag, 20. Februar 2016
Bewohner der Milchstädte
Er sitzt wie jeden Tag auf dem kleinen Hügel hinter dem Haus und blickt in den Himmel. Seine neugierigen Kulleraugen suchen aufmerksam den Horizont ab. „Heute ist er grau. Einfach nur grau“, bemerkt der kleine Junge betrübt. Der Blinde neben ihm lächelt und antwortet: „Grau ist eine wunderschöne Farbe.“ Der kleine Junge runzelt verständnislos die Stirn. Wäre der Himmel wieder einmal von großen, flauschig weißen Wattebergen besiedelt, dann wäre er wunderschön. Kein dumpfes Grau, sondern schneeweiß ist dann der Himmel, so weiß wie die Milch, die der kleine Junge jeden Morgen zum Frühstück trinkt.

Es sind Milchstädte. Sie wandern von Ort zu Ort und kehren, wann immer sie möchten, wieder zurück. Es sind immer neue Städte, die am Himmel entlang ziehen. Mal hängen sie dick und bauschig am Himmel, mal sind sie nur leicht und hauchdünn zu erkennen. Wenn die Milchstädte einmal über dem Hügel hinter dem Haus rasten, sitzt der kleine Junge besonders lange im Gras und wünscht sich, sie nur ein einziges Mal mit den Fingern berühren zu können. Sie faszinieren ihn. Der Himmel fasziniert ihn.

An manchen Tagen stellt er sich vor, wie die Bewohner der Milchstädte von Haus zu Haus fliegen. Sie sind genauso weiß und so leicht wie ihre Häuser. „Wohnen eigentlich Engel in den Milchstädten?“, fragt der kleine Junge seinen Begleiter. „Vielleicht. Hast du denn schon welche gesehen?“ „Nein. Aber meine Mutter sagt, dass meine Geschwister nun Engel sind und im Himmel wohnen.“ Der alte Blinde schweigt. „Ich möchte auch gerne fliegen können“, stellt der kleine Junge mit gedämpfter Stimme fest und vergräbt gedankenverloren seine speckigen Finger im Gras. „Das wirst du, mein Junge, das wirst du“, flüstert der Blinde und tätschelt behutsam die schmalen Schultern des Jungen. Abrupt hält dieser jedoch inne und blickt den alten Mann neben sich ungläubig an. Im nächsten Moment ist er auf den Beinen und läuft kopfschüttelnd zum Haus zurück.

Hatte seine Mama ihm nicht gestern erst erklärt, dass der liebe Gott die Menschen dafür geschaffen hat, um auf die Erde aufzupassen? Die Vögel, Bienen und
Fledermäuse schuf Gott aber für den Himmel, damit sie in ihm fliegen können. Der alte Blinde bleibt alleine zurück.

Dicke schwere Tropfen fallen auf die blasse Haut des kleinen Jungen bevor sie sich den Weg zum Erdboden suchen. Er liegt einfach da. Mitten im Regen. Im nassen Gras. Seine Hände sind hinter dem Kopf verschränkt. Der alte Blinde sitzt still neben ihm. Er zittert vor Kälte, doch macht er keine Anstalten zu gehen. „Der Himmel weint“, stellt der kleine Junge fest, ohne seine Augen zu öffnen. Niemals würde er fliegen können, das war dem kleinen Jungen inzwischen klar geworden. Er ist zu dick und zu schwer für den Himmel. Das sagen zumindest seine Mitschüler. Warum träumst du nur immer davon zu fliegen? Du bist nicht so leicht wie ein Vogel und auch nicht so winzig wie ein Schmetterling. Nein, da haben sie Recht. Er ist weder leicht noch winzig. Schon kleine Wassertropfen, welche leicht und winzig sind, fallen vom Himmel. Der Himmel kann den kleinen Jungen unmöglich tragen. „Ich muss zu einem Engel werden, dann kann ich auch fliegen“, seufzt er und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Der alte Blinde schweigt.

Rücken an Rücken sitzen sie auf dem Hügel und recken ihre Köpfe gen Himmel.

„Was siehst du eigentlich?“

„Ich sehe eine schwarze Nacht.“

„Aber es ist doch hell, es ist Tag.“

„Das glaube ich dir. Ich konnte früher auch all das sehen, was du jetzt siehst. Nun bin ich alt und meine Augen sind müde“, antwortet der alte Blinde und lächelt. „Weißt du denn noch, wie der Himmel aussieht, welche Farben er hat?“ „Natürlich. Niemals werde ich vergessen, wie wunderschön er ist. Weder die vielen Milchstädte noch das grauste Grau werde ich je vergessen“, ein wehmütiges Lächeln umspielt seine Lippen. Der kleine Junge schweigt.

Ein strahlend blauer Himmel erwartet den kleinen Jungen auf dem Hügel. Mit ausgebreiteten Armen und großen Schritten eilt er den Hügel hinab, ohne seinen Blick nur ein einziges Mal von den Vögeln am Himmel abzuwenden. Sie lassen sich vom Wind treiben. Sie können eben fliegen. Jauchzend macht der kleine Junge einen großen Satz in die Luft und schließt dabei die Augen. Sein Herz macht vor lauter Freude einen kleinen Sprung, bevor er in das weiche Gras fällt. Heiteres Gelächter schallt vom Hügel hinunter. Der alte Blinde klatscht Beifall und lehnt sich zufrieden zurück. Bald ist es soweit, denkt er. Bald lerne ich zu fliegen.

Düstere Milchstädte kutschiert der Himmel im schnellen Tempo über das Land. In der Ferne scheint sich ein Gewitter aufzutürmen. Der Horizont ist wie ein dicker, dunkler Streifen am Ende der Erde, aber der kleine Junge steht mit ausgestreckten Armen und gespreizten Beinen auf dem Hügel. An seinen Händen sind große Papierflügel geheftet. Sie flattern geschmeidig im Wind, im gleichmäßigen Rhythmus passen sie sich den kräftigen Windstößen an. Er ist alleine. Der alte Blinde ist schon seit ein paar Tagen nicht mehr auf dem Hügel hinter dem Haus aufgetaucht, doch dies hat der kleine Junge nicht einmal bemerkt.

Konzentriert schließt er für einen Moment seine Augen, atmet tief durch und beginnt anschließend, mit steigendem Tempo den Hügel hinunter zu laufen. Die Papierflügel flattern noch immer im Wind und gewinnen mit jedem weiteren Schritt unbeschwert an Höhe. Er springt ab und reißt seine Flügel zum Himmel. Für einen Moment scheint er in der Luft zu verharren, der Schwerkraft mit den leichten Papierflügeln zu trotzen. Der kleine Junge blickt hoch zu den Milchstädten, dessen Farben noch kräftiger leuchten als je zuvor. Weiß wie die Milch, die er jeden Morgen zum Frühstück trinkt. Sie kommen ihm immer näher oder kommt er ihnen etwa näher? Sie heißen ihn willkommen, einen neuen Bewohner der Milchstädte.

Der kleine Junge lächelt zufrieden und spricht mit fester Stimme gen Himmel „ Ich heiße Otto Lilienthal. Ich bin nicht zu schwer und auch nicht zu winzig. Ich werde wie ein Vogel fliegen!“

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Letzte Aktualisierung: 2016.02.20, 20:32
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by oh hej (2016.02.20, 20:32)

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